'Fallgeschichte' und Klimaprozess
Recht und Literatur im Bündnis gegen die Klimakatastrophe
Dr. Alexandra JUSTER
Von der Zukunft her denken: Erzählkulturen gegen die Klimaerwärmung
Universität Regensburg
18.-20. September 2025
Gliederung
- Ausgangslage: Das Kommunikationsdilemma im Klimarecht
- Analyse: Klimarechtsstreit als gesellschaftliches Phänomen
- Theoretischer Rahmen: Die Fallgeschichte als Genre
- Praxis: Fallbeispiel Lliuya vs. RWE
- Methodik: Narrative Strategien
- Ausblick: Potenziale und Grenzen
Das Kommunikationsdilemma im Klimarecht
Strukturelle Barrieren:
- Hochkomplexe juristische Verfahren
- Abstrakte Kausalitätsketten
- Technische Fachsprache
- Langwierige Prozessdauer
Gesellschaftliche Folgen:
- Mangelnde öffentliche Wahrnehmung
- Fehlendes Verständnis für Rechtsfortschritte
- Geringe emotionale Bindung
- Ausbleibende Mobilisierung
Zentrale These: Die narrative Vermittlung durch Fallgeschichten kann die Kluft zwischen juristischer Expertise und gesellschaftlicher Teilhabe überbrücken.
Evolution der Klimarechtsstreitigkeiten
1. Generation (2005-2015):
• Fokus auf Verfahrensfragen
• Klagebefugnis und Zuständigkeit
• Beispiel: Massachusetts v. EPA (2007)
2. Generation (2015-2020):
• Menschenrechtsbasierte Ansätze
• Staatliche Schutzpflichten
• Beispiel: Urgenda v. Niederlande (2015-2019)
3. Generation (2020-heute):
• Unternehmenshaftung
• Intergenerationale Gerechtigkeit
• Beispiele: Shell-Urteil (2021), BVerfG-Klimabeschluss (2021)
Klimaklagen weltweit: Zahlen und Trends
Region |
Anzahl Klagen (2025) |
Erfolgsquote |
Hauptklagegründe |
Europa |
458 |
34% |
Menschenrechte, Schutzpflichten |
Nordamerika |
1.847 |
28% |
Regulatory challenges, tort claims |
Globaler Süden |
187 |
41% |
Anpassung, Loss & Damage |
Asien-Pazifik |
312 |
31% |
Umweltstandards, Unternehmenshaftung |
Problem: Trotz steigender Fallzahlen erreichen nur 2% der Bevölkerung direkte Kenntnis von Klimaprozessen
Die Fallgeschichte als literarisches Genre
Definition:
Die Fallgeschichte ist eine hybride Textsorte, die reale Rechtsfälle durch narrative Strategien in eine für Laien zugängliche Form transformiert.
Historische Wurzeln:
- François Gayot de Pitaval (1734)
- Paul Johann Anselm Feuerbach (1808)
- Heinrich von Kleist: "Michael Kohlhaas"
- Theodor Fontane: Kriminalnovellen
Moderne Ausprägungen:
- Ferdinand von Schirach: "Verbrechen"
- Juli Zeh: "Corpus Delicti"
- True Crime Podcasts
- Dokumentarische Gerichtsdramen
Narrative Elemente der Fallgeschichte
📖 Personalisierung
Individuelle Schicksale statt abstrakter Rechtsfragen
⏱️ Chronologisierung
Zeitliche Dramaturgie statt juristischer Systematik
🎭 Spannungsbogen
Konflikt - Eskalation - Auflösung
💭 Innenperspektive
Emotionen und Motivationen der Beteiligten
🌍 Kontextualisierung
Gesellschaftliche und historische Einbettung
🔍 Detailreichtum
Szenische Darstellung statt juristischer Abstraktion
Fallbeispiel: Der Lliuya-Prozess
Saúl Luciano Lliuya, ein peruanischer Bergführer aus Huaraz, verklagt den deutschen Energiekonzern RWE auf anteilige Übernahme von Schutzmaßnahmen gegen eine drohende Gletscherflut.
Klägerseite:
- Existenzbedrohung durch Gletscherschmelze
- RWE als größter CO₂-Emittent Europas
- 0,47% globaler Emissionen = 0,47% der Kosten
Beklagtenseite:
- Keine direkte Kausalität nachweisbar
- Globales Problem, lokale Klage
- Präzedenzfall-Gefahr
Urteil vom 28. Mai 2025: Das OLG Hamm weist Lliuyas Entschädigungsanspruch zurück, bestätigt aber die prinzipielle Verantwortung der Großemittenten für Klimaschäden.
Von der Klageschrift zur Fallgeschichte
Juristische Darstellung |
Narrative Transformation |
"Der Antragsteller begehrt die Feststellung der Haftung gem. § 1004 BGB" |
"Saúl blickt jeden Morgen auf den bedrohlich steigenden Wasserspiegel..." |
"Kausalitätsnachweis zwischen Emissionen und Schadenseintritt" |
"Die unsichtbare Verbindung zwischen Rheinland und Anden" |
"Störereigenschaft des Beklagten" |
"David gegen Goliath: Ein Bergführer fordert einen Energieriesen heraus" |
"Erst durch die Geschichte wird aus dem Aktenzeichen 2 O 285/15 ein Mensch mit Namen, Gesicht und Schicksal."
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Kontakt:
Dr. Alexandra JUSTER
alexandra.juster@uibk.ac.at